Kurzgeschichte: Glücksspiel

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Glücksspiel "16" … "38" … "und die 65 als Zusatzzahl. Die Regierung hofft, dass Ihre Zahlen dabei waren und Sie ein Stück Ihres Glücks einlösen können." Der große Bildschirm verschwand in einer Versenkung, Geddy schaute auf sein Kommunikationsgerät, auf dem die soeben verkündeten neun Zahlen in großen Lettern aufblinkten. Er hatte wieder einmal … NICHTS. Nein, das war nicht ganz richtig. Er hatte stattliche drei Richtige. "Drei aus neun, na wenn das mal keine Überraschung ist", lachte er höhnisch. Geddy war es gewohnt, dass er kein Glück hatte, doch diesmal tat es besonders weh zu sehen, wie wenig das Schicksal für ihn übrig hatte. Er brauchte schließlich keine acht oder gar neun Richtige, auch die Zusatzzahl war ihm schnuppe. Alles, was er brauchte waren sechs, nicht mehr. "Verdammte sechs richtige Zahlen, mehr nicht. Sechs aus 99, ist das zu viel verlangt?", schien es in seinem Kopf zu pochen. Er, Geddy, war 33 Jahre alt und wünschte sich, er wäre 29. Ungewöhnlich war das an sich nicht, das Gefühl verlorener Jugend, Midlife-Crisis und vieles mehr ließen unendlich viele in Geddys Alter verzweifeln und denken, dass ihre beste Zeit vor der großen 30 hätte kommen sollen und nun vielleicht nie mehr anreist. Natürlich hatten auch viele 33-Jährige auf die zahllosen Stimmen gehört, die – vor allem in Werbespots – betonten, dass die "Glanzzeit eines Mannes mit 35 erst beginnt". Geddy kannte diese Spots natürlich. "Seitdem Sie das Anti-Aging-Präparat Yang in jeder Apotheke erwerben können, ist das Alter keine Hürde mehr." Das versprachen die Werbefachleute und übersahen dabei natürlich branchenüblich die Tatsachen. Das Anti-Aging-Präparat "Yang", das eine chinesische Pharmagesellschaft nach dem Entschlüsseln des menschlichen Erbguts entwickelt hatte, setzte zwar alles daran, dass das Altern verschoben wurde, verhindern konnte es "Yang" jedoch auch nicht. In der Praxis wurden Patienten, die das "Wunderpräparat" über mehr als ein Jahr einnahmen, deutlich älter, nämlich bis zu 125 Jahre alt, doch sterben musste bislang noch jeder Mensch, ganz gleich, ob mit "Yang" oder ohne. Mit der chinesischen Erfindung wurden kleine und feine Details wie Faltenbildung und Gewebeermüdungen um rund 15 Jahre nach hinten verschoben. Das alles interessierte Geddy nicht sehr. Die Zukunft hatte er nicht im Hinterkopf, jedenfalls nicht mehr seit dem 29. Februar 2024. Es war ein Donnerstag, an dem seine Zukunft vernichtet worden war. Ein Donnerstag in einem Schaltjahr. "Eine Woche noch, dann brauche ich schon sieben Richtige", flüsterte er, als er durch die dunklen Straßen Londons lief. "Eine Woche." Er ging zu einem Croupier. So hießen die Inhaber der kleinen Lottobuden in Anlehnung an ein Glücksspiel, dass es bis zu Beginn der Zehner gegeben hatte. Seit 2012 war Roulette, wie es die Spielenden nannten, abgeschafft worden und nur noch in zwielichtigen Spelunken gespielt worden. Illegal, versteht sich. "Ah, Mr. Hill", der mit einer Art asiatischen Touch versehene Geschäftsmann blickte Geddy freundlich an. "Wiedel Pech gehabt? Odel wollen Sie, dass ich einen Gewinn einlöse?" Geddy trat an den kleinen mit Samt überzogenen Tisch. "Ich habe drei", sagte er zerknirscht. Und fügte fast resigniert hinzu: "Wie immer." Geddy griff in die Tasche seiner schwarzen Hose, streckte die Hand aus und gab dem Asiaten einen Chip. "Fleuen sie sich, Mr. Hill", erwiderte dieser. "Viele meiner Kunden würden einiges dafür geben, wenn sie dlei Richtige hätten." Er sprach drei wie dlei aus, doch seltsamerweise waren Richtige keine Lichtige. Geddy wusste, dass Jim Wong ein Afroamerikaner war, der sein Aussehen aus geschäftlichen Gründen kosmetisch hatte anpassen lassen. Asiaten waren als seriöse Geschäftsleute anerkannt, Afroamerikaner hatte wie Weißhäute seit langer Zeit das Heft abgeben müssen. Geschäfte machte man mit Asiaten. "Die können besser rechnen", hatte Geddys Großvater immer gesagt und damit versucht die offizielle Parteimeinung in das Hirn seines Enkels zu pflanzen. Geddy hatte nie verstanden, warum Asiaten besser rechnen können sollten, als weiße, schwarze oder rothäutige Menschen und doch schien es eine Art Naturgesetz zu sein. Geschäfte wurden von Asiaten gemacht. Afroamerikaner und Weiße waren für andere Dinge zuständig. Viele Künstler waren weiß, viele Politiker schwarz. Eine Tatsache, die Geddy schon wieder bestärkte, dass Asiaten besser mathematische Zusammenhänge und weltwirtschaftliche Zusammenhänge verstehen konnten, als andere. Dass es aber kosmetisch veränderte gab, die nun Asiaten "waren", gab ihm kein Gefühl von Vertrauen in die Wirtschaft, wenngleich er zugeben musste, dass diese "falschen Fuffziger", wie sie in der Bevölkerung verachtend genannt wurden, fast ausschließlich in den niederen Bereichen, wie die Glücksspielverwaltung eine war, zum Einsatz kamen. "Dlei Richtige. Bitte schön, Ihl Gewinn." Wong, der früher einmal Jim Shaffer geheißen hatte, reichte Geddy einen Scheck über 500 Jon. Und Jim Wong hatte nicht übertrieben. 500 Jon waren eine ganze Menge Geld und viele hätten es gut gebrauchen können. Nicht aber Geddy Hill. Der blonde Hüne stolperte seine ganzen 194 Zentimeter aus Wongs Etablissement und ging nach Hause. Dort steckte er die 500 Jon zu den restlichen Geldbeträgen, die er in der Lotterie bislang gewonnen hatte. Große und kleine Scheine steckten in der gläsernen Truhe und wenn Geddy das Geld gezählt hätte, wäre er auf mehr als 2500 Jon gekommen. Doch Geddy zählte das Geld nie, denn mit Geld konnte er das, was er dringend brauchte und in der Lotterie zu gewinnen erhoffte, nicht kaufen. Geddy brauchte ZEIT, viel Zeit. Bis zum 29. Februar 2028 vier Jahre, also sechs Richtige. Sue Morgenstern steckte ihre Chipkarte in den Kartenleser und beendete damit ihren Arbeitstag. "Danke für Ihren Beitrag an der Verbesserung unseres Staates", tönte die blecherne Stimme aus dem Kartenleser ihr entgegen und fügt genauso mechanisch hinzu. "Einen schönen Schalttag noch, Miss Morgenstern." "Du kannst mich auch mal, du Blechbüchse", entgegnete Sue fröhlich. An einem Schalttag zu arbeiten machte ihr nichts aus. Ihr machte auch der Gedanke nichts aus, dass einfach alle ihre Freunde den einzigen freien Tag im Jahr genossen, lange ausschliefen und Ausflüge planten. Sie hatte früh Feierabend gemacht, es war 16.06 Uhr, und freute sich über die ungewohnte freie Zeit. "Geddy wird Augen machen, wenn ich ihn gleich schon anfunke und ihm sage, dass er kommen kann", dachte sie und bestieg die Schwebebahn. "Einen schönen Feierabend, Miss Morgenstein", erklang die freundliche Computerstimme, als Sue ihre Fahrkarte in den Schlitz an der Wagontür geschoben hatte."Ja, Ja." Sue Morgenstern machte es sich auf einer der roten Couches bequem und schloss die Augen. Der Wagon war leer, Arbeitseinsätze gab es heute so gut wie keine, der Transport war auf einen Wagen pro Stunde heruntergeschraubt worden. Nach einer Viertelstunde kam der Wagon mit seinem einzigen Gast in Hounslow East an und stoppte. "Aussteigen Miss Morgenstern", ertönte die Computerstimme und Sue packte ihren Aktenkoffer und verließ den Shuttlebus. Sie trat heraus und blickte in die sich langsam gen Horizont verabschiedende Frühlingssonne. Es war ein langer und harter Winter gewesen, doch so langsam tat sich die Sonne nicht mehr allzu schwer die Menschen in diesem Teil der Erde zu erwärmen. Sue Morgenstern ging die kleine baumlose Allee herunter und nestelte bereits hundert Meter vor ihrer Wohnungstür ihre Chipkarte aus dem großen schwarzen Rucksack. An der Haustür angekommen, steckte sie den Chip in die große blaue Stahltür. Die Tür schob sich zur Seite, die Gitter vor den Fenstern verschwanden im Gemäuer. Diese neuartige Alarmanlage anzuschaffen, hatte sie einiges an Überwindung gekostet, doch das schien sich zu rentieren. Auch an die 1000 Jon, die sie gekostet hatte, dachte Sue nicht mehr. Allein das Gefühl von Sicherheit empfand Sue Morgenstern als unbezahlbar. Seit ihrer Kindheit hatte sie stets Angst vor Einbrechern gehabt. Das Haus ihrer Eltern war in einer warmen Sommernacht von Dieben durchwühlt worden, während die Familie Morgenstern nur einige hundert Meter entfernt an einem Fluß saß und das jährliche Familienangeln veranstaltete. Sues Daddy, Sam, hatte seiner kleinen Tochter und vor allem seinem Sohn Jason die alten Bräuche und Traditionen der Menschen näher bringen wollen. "Wir sind sicher die einzige Familie in ganz England, die noch selber angeln und keinen Haushaltsroboter vorschicken", freute sich Sam Morgenstern damals. Nach dem Angeln kamen sie damals nach hause und alles war durchwühlt, vieles zerschlagen aber nur wenig gestohlen. Sue fühlte sich seitdem immer unwohl, wenn sie ihre Wohnung betrat. Der Gedanke, dass wildfremde Menschen in ihren Schränken herumgewühlt oder in ihrem Bett "wer weiß was für Sachen" gemacht haben könnten, gab ihr eine flaues Gefühl in der Magengegend. Die ganze Nacht hatte die Familie Morgenstern damals in der üblichen Sicherheitsverwahrung verbracht. Dies mussten alle Einbruchsopfer über sich ergehen lassen und die meisten waren sehr froh darüber, in der Nacht des Einbruchs nicht in der eigenen Wohnung, sondern in Polizeigewahrsam verbringen durften. Sue ging ins Haus. "Einen schönen Feierabend, Sue", sagte der Haushaltsroboter, der eine sanfte männliche Stimme hatte. "Ja, Danke schön." Sue hatte sich längst an Rob gewöhnt, der seit einem Jahr für eine perfekt saubere Toilette und wunderschön gesaugte Teppiche sorgte. Rob war ein Geschenk von Sues Freund Geddy. "Du darfst dich nicht immer gegen die neuen Technologien wehren", hatte Geddy ihr einzubläuen versucht und seitdem sie ihrem Freund die Alarmanlage abgekauft hatte, schien die Idee, verstärkt dem Fortschritt zu vertrauen, keine schlechte zu sein. Er hatte die Anlage von einem Freund erworben und machte Sue einen echten Schnäppchenpreis. Die Anlage, ein echtes High-Tech-Teil, kostete nur unwesentlich mehr, als die billigste, aber lediglich mechanisch betriebene. Für 1000 Jon war sie ein unglaubliches Angebot. "Das ist noch ein Prototyp", erklärte Geddy ihr, "doch im nächsten Monat soll sie auf den Markt kommen und mindestens 6.000 Jon kosten." "Ach Geddy", seufzte Sue verliebt und schaute auf das große fluoreszierende Poster ihres Freundes, das sie an der Wand ihres Schlafzimmers aufgehängt hatte und das Geddy auf der Bühne zeigte. Ausdrucksvoll schaute der Jung-Schauspieler in die Kamera und streckte die Arme aus. "Mehr hast du nicht zu bieten?" Das war der Dialog in dieser Szene gewesen und Sue erinnerte sich gerne an Geddys größten Erfolg, der kleinen, aber für das Stück wichtigen Nebenrolle, in dem neuesten Stück von Jackson Pulit, einem der damals angesagtesten Bühnenautoren. Eine Fanfare ertönte. "Oh Mist, ich hab geträumt", entfuhr es Sue und in der Tat hatte sie die Zeit völlig vergessen. "Das muss Geddy sein." "Mr. Hill, würde es ihnen etwas ausmachen ein wenig mehr, nein überhaupt etwas Gefühl, mit ins Spiel zu bringen?" Geddy stand auf der winzigen Bühne des "Old Bill", eines Pubs, der eine verträumte Literatenatmosphäre ins High-Tech London der Neuzeit zu bringen versuchte. Es gab stets nur wenige Gäste, die meisten waren Literaturprofessoren, verschrobene Gelehrte oder ab und zu einmal einige Studenten, denen das "Old Bill" als Zeitreise in die Ära des Buchs von ihren Profs empfohlen worden war. Im "Old Bill" gab es Lesungen alter Meister wie Shakespeare, Wilde, Pratchett oder Bukowski, doch auch – und das war Geddys momentan einzige Einnahmequelle – kleine, traditionelle Theaterstücke aus alten Zeiten. Geddys alter Freund Rick Kaianis hatte ein gutes Wort für ihn dort eingelegt, damit er endlich aus seinem emotionalen Tief herauskam und wieder das tun konnte, was er so sehr liebte. Schauspielen. "Mr. Hill!" Der Regisseur Tim Wilkinson fuhr Geddy nun schon zum wiederholten Male an. "Ich denke, sie sind einfach nicht bei der Sache, Mr. Hill." Geddy schaute wie ein Schuljunge zum Regisseur hinüber. Er hat mich ertappt, dachte er. "Es tut mir leid, es geht heute nicht." Wilkinson näherte sich und musterte Geddy von oben bis unten. "Was ist das verdammte Problem? Sie können spielen, warum tun sie es nicht mehr?" Ich kann nicht spielen, dachte Geddy. Wenn ich spielen könnte, würde ich doch mehr als drei Richtige bekommen. Die Zeitreise-Lotterie war eine neue Idee der Regierung gewesen. Ab fünf Richtigen konnte sich der Gewinner aussuchen, ob er einen Geldpreis oder eine Zeitreise in die Vergangenheit bekommen wollte. Die Idee in die Zeit zu reisen, war dabei für die meisten Gewinner deutlich vielversprechender als der statische Geldpreis. Fünf Richtige bedeuteten 100.000 Jon oder aber zwei Jahre Zeitreise. Nur Ängstliche nahmen das Geld, denn durch eine Zeitreise konnte man mit der richtigen Ausrüstung deutlich mehr Geld verdienen. Durch Wette etwa. Die "Ausrüstung" hätte dabei aus einem Wettalmanach bestanden. "Machen Sie es, wie Michael J. Fox im Hollywood-Klassiker Zurück in die Zukunft" lautete die Werbebotschaft der Staatslotterie. Wollte man jedoch richtig professionell vorgehen, war ein Buch über Börsenentwicklung und Indexgeschichte keine schlechte Investition. Wer etwa vor zwei Jahren R2-Aktien gekauft hätte, wäre heute Millionär, denn der Hersteller der Haushaltsroboter hatten einen immensen Aufschwung erlebt. Vom Tag der Gewinneinlösung an, hatte man drei Monate Zeit, einen Termin zu benennen, an dem man die Zeitreise durchführen wollte. Die Reise dauerte einen Tag. Wenn man also am 1. April drei Jahre in die Vergangenheit reiste, verbrachte dort genau diesen Tag und kam am 2. April zurück. Man verpasste also einen Tag in der Gegenwart, doch das war es den meisten wert, schließlich bewies ein Blick aufs Bankkonto anschließend, dass es sich gelohnt hatte. Für sechs Richtige gab es 250.000 Jon oder wahlweise vier Jahre Zeitreise, während sieben Richtige 500.000 Jon oder sieben Jahre bedeuteten. Je höher die Zahl der Richtigen, desto seltener reisten die Gewinner in der Zeit. Das war der staatlichen Lotterie schnell aufgefallen. Kein Wunder, denn für acht Richtige gab es 1,5 Millionen Jon oder 12 Jahre Zeitreise, während der Hauptgewinn, Neun Richtige, 5 Millionen oder 25 Jahre einbrachten. Während von den 150 Tippern, die bislang acht Richtige hatte, nur zwei die 12-Jahres-Reise gewählt hatte, wurde der Hauptgewinn in allen bisherigen zehn Fällen immer ausgezahlt. Da alle Reisen auf eigene Gefahr angetreten werden mussten, wagten sich nur selten Menschen über die 4-Jahres-Grenze hinaus. Viele Wissenschaftler warnten überdies davor, mehr als fünf Jahre in die Zeit zu reisen, da "die Wirkung eines solchen Eingriffs ins Zeit-Raum-Kontinuum bislang nicht absehbar ist", wie Cindy Strawer, die führende Zeitreise-Wissenschaftlerin behauptete. Strawer war überdies der Ansicht, dass man das Schicksal sowieso nicht betrügen könnte. "Wenn man nicht für das große Geld vorgesehen ist, wird man es auch wieder verlieren", sagte sie einmal in einer Talkshow. Dies war der Teil, den die Lottospieler nicht hören wollten und deshalb gerne ignorierten. Es gab trotzdem einige Regeln für die Zeitreise. So durfte man in der Vergangenheit keine illegalen Geschäfte betreiben oder gar Verbrechen begehen. In den wenigen Fällen, in denen Unentwegte in der Vergangenheit eine Bank ausgeraubt hatten, waren allesamt aufgeklärt worden und die Reisenden noch bei ihrer Rückkehr in die Gegenwart zur Todesstrafe verurteilt worden. Kein Wunder, schließlich hatten die Behörden Jahre Zeit den Diebstahl zu bemerken und verfolgen. Es gab auch illegale Aktionen, die stillschweigend geduldet wurden. Es war der Lotterie durchaus bekannt, dass im Jahr 2027 eine 25-jährige illegale Reinigungsfachkraft durch eine erneute Teilnahme an einem High-School-Test die Schule nun erfolgreich abgeschlossen hatte und in der Gegenwart dadurch in das staatliche Arbeitsprogramm gerutscht war. "Geddy, mein Schatz", Sue öffnete die Tür und Geddy lief mit schnellem Schritt in ihre Wohnung. "Ach mein Engel, ich habe dich vermisst." Er nahm sie in den Arm und küsste sie leidenschaftlich. Sue war die Frau seines Lebens, darüber war er sich völlig klar. Er hatte viel ausprobiert, junge Frauen, alte Frauen, verschrobene Frauen, schöne Frauen, hässliche Frauen, doch eine Frau, wie Sue hatte er noch nie kennengelernt. Sie versuchte nicht ihn zu verändern, er konnte so sein, wie er war. Sie fand es toll, dass er Schauspieler war. Keine Frau vorher hatte dies zu ihm gesagt. Vielmehr war ein "wann suchst du dir eigentlich nen richtigen Job" immer nur eine Frage der Zeit gewesen. Bei Sue war das nicht so. Sue fühlte sich auch als Künstlerin, obwohl sie nüchtern betrachtet, lediglich eine Stadtplanerin war. "Ich versuche die Stadt nach meinen Ideen zu verschönern", hatte sie einmal gesagt und wenn Geddy die Augen aufmachte, erkannte er in seiner Stadt die Fingerabdrücke seiner geliebten Freundin. "Ganz schön anarchistisch, wie du den Brunnen auf der Mainstreet konzipiert hast", sagte er jetzt, als er ihre Wohnung betrat. "Ja, ist cool geworden oder? Alles voll asymmetrisch. Hat auch ewig gedauert, den Entwurf durchzukriegen. Die haben ständig rumgenörgelt." Sue befreite sich aus seiner liebevollen Umklammerung und drückte einen Knopf. "Guck mal", rief sie, als die Gitter vor den Fenstern zurückkehrt und man sechs Schlösser der Haustür einrasten hörte. "Ich fühle mich richtig sicher", sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund. "Danke für den Tipp." Sie zog ihn ins Schlafzimmer und begann damit Geddy zu entkleiden. "Du hast den Mund nicht zu voll genommen mit der Alarmanlage und dem Quatsch mit dem technischen Fortschritt, deshalb werde ich den Mund nun etwas voller nehmen als sonst." Geddy lief durch die Straßen, als er eine Lottobude erblickte. "Hmm, morgen ist die nächste Ziehung. Ich spiele heute schon", sagte er entschlossen. Normalerweise war er sehr abergläubisch und seitdem er dreimal drei Richtige hintereinander gehabt hatte, spielte er immer erst am Tag der Ziehung. Doch diesmal wollte er etwas anderes probieren. "Drei nützen eh nix, ich spiele heute schon und diesmal auch ganz andere Zahlen." Für einen abergläubischen Menschen war eine solche Änderung im Plan eine enorme Kraftanstrengung, die mindestens 50 Mal im Kopf durchdacht wurde. Geddy hatte nachgedacht, sogar 100 Mal oder mehr. Er betrat den Lottoshop und ließ sich eine Chipkarte geben. Er ging hinaus und setzte sich in ein Café. Der Kellner musterte ihn aus der Ferne, als müsse er sich Mut beschaffen, um ihn zu bedienen. Nach einer kurzen Weile nahm er dann aber doch sehr freundlich seine Bestellung entgegen. "Einen doppelten Espresso und ein Delphin-Baguette bitte." Der Kellner nickte und verschwand. Geddy steckte die Hand in seine Brusttasche. Er fühlte das kalte Plastik des Lottochips, ja er streichelte ihn fast. Doch er musste Ruhe haben, um ihn zu besprechen, deshalb wartete er bis der Kellner die Bestellung gebracht hatte. Er zahlte sofort, um nicht weiter gestört zu werden. Als der Kellner das Wechselgeld gebracht hatte, nahm Geddy den Chip aus der Tasche. Er drückte auf das aufgedruckte ON-Feld des Chips, der die Größe einer dieser altmodischen Zigarettenschachteln hatte, jedoch weniger als halb so dick war. "Bitte nennen Sie Ihre ID", sagte eine sanfte Frauenstimme zu Geddy. Er überlegte nicht lange, schließlich brauchte man die Nummer aus dem Staatsausweis nahezu jeden Tag. "613987 H", sagte er langsam und überdeutlich. "Wenn Sie Mr. Geddy Hill sind bestätigen Sie dies mit einem Druck auf die grüne Taste, wenn nicht drücken Sie die rote Taste und nennen Sie Ihre ID erneut", tönte die Frau aus dem Chip. Geddy drückte auf das grüne Feld. "Bitte nennen Sie nun Ihre Zahlen, Mr. Hill!" Geddy hatte einen zerknüllten Zettel in der Tasche, darauf standen die Zahlen, die er immer spielte. Er würde sie diesmal einfach um eine Zahl nach hinten verschieben. Das war sein ganzer Plan. Er würde einfach die wichtigen Daten in seinem Leben verändern und hoffte damit sein Leben verändern zu können. Er schaute auf seinen Zettel, doch dies war nur ein Reflex, die ersten Zahlen kannte er so gut wie seine ID. 29, 2, 24. "30, 3, 25" sagte Geddy, blickte wieder auf das weiße Blatt Papier und sah als nächstes das Geburtsdatum seiner Freundin Sue. 12, 9, 98. "13, 10, 99", flüsterte er nun fast und entschied sich plötzlich spontan zu einer Planänderung. Auf dem Papier standen in seiner krakeligen Schrift die letzten drei Ziffern. 87, 45, 62. Und Geddy sagte "87, 45 und 62". Welche eine kühne Änderung, durchfuhr es sein Gehirn, als hätte er, Geddy Hill, den Stein der Weisen entdeckt, als könnte er Stein in Gold verwandeln. "Ich wiederhole", sagte der frauliche Chip freundlicher als sonst (das jedenfalls empfand Geddy so). "3, 10, 13, 25, 30, 45, 62, 87 und 99. Bitte sortieren Sie beim nächsten Mal die Zahlen von der Kleinsten zur Größten, Mr. Hill. Bestätigen Sie nun ihre Tippreihe durch einen Druck auf die grüne Taste." Er schloss die Augen und drückte. Danke fürs Mitspielen und viel Glück!" Der Chip verlor plötzlich jegliches Leben, das einmal in ihm gesteckt hatte und war nur noch ein Stück Plastik. Die Zahlen wurde per Modem ins Rechenzentrum der Lotterie gesendet und nun konnte Geddy nichts mehr tun, als hoffen. "War es die richtige Strategie? Oh, Sue, ich habe dein Geburtsdatum verleugnet", murmelte er und plötzlich kam ihm die geänderte Spielweise mit den neuen Zahlen wie eine Art Hochverrat vor. Doch einen weiteren Chip konnte er nicht ausfüllen, jeder durfte nur einmal pro Woche in der Lotterie spielen. Das war eine der Spielregeln. Geddy stand auf und verließ das Café – das Schicksal sollte nun sein Übriges tun. "Was machen wir heute Abend, Geddy?", Sue kam gerade aus der Dusche und ihr Freund lag noch völlig erschöpft auf dem großen Futon-Bett. "Vielleicht noch einmal so etwas wie gerade", lachte er. "Na, da würde ich drauf wetten, mein Schatz." Sie trat ans Bett, griff ihn in den Schritt und flüsterte. "Wenn ER dann wieder fit ist." Geddy räkelte sich und setzte sich aufs Bett. "Er wird es sein, versprochen." Sue freute sich über seine Begierde und ihre Lust, ihm diese in Entspannung zu verwandeln. "Doch bis dahin, sollen wir was unternehmen?" "Klar, warum nicht. Hast du schon eine Idee, Kleine." Er nannte sie immer Kleine, obwohl sie beide ziemlich gleich klein waren. "Wie wäre es mit einem schicken Essen in Soho?" "Klasse. Du bist die Beste" Er nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich auf die Stirn. "Na dann wascht euch mal", erwiderte sie und nahm die Hand aus seinem Schritt. Es war der 28. Februar 2028. Ein Montag, der Tag der Lottoziehungen. Die staatliche Lottogesellschaft hatte den Montag vor einigen Jahren zum Lottotag gemacht, denn dadurch – so die Begründung des staatlichen Lottogenerals – hat man gleich zu Wochenbeginn ein Highlight, auf das man sich das ganze Wochenende über freuen konnte. Dies war natürlich nur eine Werbegag, denn schon lange hatte die Wochenenden und dadurch auch die Wochenanfänge an Bedeutung verloren. Schließlich arbeiteten viele Menschen mittlerweile jeden Tag. Geddy betrat seine kleine Wohnung. Hier hauste er seit nunmehr vier Jahren. Die beiden Räume und die Küche sahen aus wie geleckt, obwohl Geddy sich keinerlei Gedanken um Hygiene und Sauberkeit machte. Er hatte einen Haushaltsroboter und es gab sicher nur wenige Haushalte in London, in denen der mechanische Diener sechs Stunden am Tag zu Werke gehen musste. Doch Geddy dachte praktisch. "Warum soll ich auf Ordnung achten, wenn ich ein solches Blech-Dings habe", sagte er einmal zu Sue. Daran dachte er nun, als er den Roboter erblickte. Es schien eine Ewigkeit herzusein, als er ihr die Alarmanlage schmackhaft gemacht hatte. Es war eine dumme, unüberlegte Handlung. Die Alarmanlage war aus dem Beta-Status noch längst nicht heraus und nicht im freien Handel erhältlich. Geddy hatte das Gerät von einem Freund erworben. "Die ist vom LKW gefallen", hatte dieser lächelnd gesagt. "Ich werde sie sicher nicht los, keiner kennt die Marke bislang. Es ist ein Prototyp." Geddy kaufte sie kurzerhand für 300 Jon und trotz seines chronischen Geldmangels hatte er sofort das Gefühl, dass er damit ein Geschäft machen konnte. Sue erzählte ihm von ihrer Angst vor Einbrüchen, als Geddy eines Tages durch ihr Fenster einstieg, um ihr vor dem Nachhausekommen ein Überraschungsmahl zu bereiten. Es war nur einen Tag nachdem er die Alarmanlage gekauft hatte und er erinnerte sich noch bestens an ihr Gespräch. "Wenn du solche Angst hast, solltest du einmal an eine Alarmanlage denken", sagte er und hatte plötzlich eine Idee. "Ach, ich weiß nicht. Ich stehe nicht so auf diesen Technik-Mist. Ist doch eh nicht zuverlässig", sagte sie und er begann nachzudenken. Er wollte ihr was Gutes tun, die Anlage ist sicher gut, redete er sich ein und überlegte, wie viel Geld er seiner Freundin, seiner Geliebten abknöpfen könnte. 2000? Nein, das war sicher zu viel, vielleicht 700? "Ich könnte dir eine nagelneue besorgen", sprudelte er sodann hervor. "Der absolute Wahnsinn. High-Tech und noch nicht auf dem Markt. Die Firma sucht gerade nen Vertrieb dafür", log er. "High-Tech? Hmm, ich weiß nicht. Selbst, wenn ich dem Gerät vertrauen könnte, könnte ich es sicherlich gar nicht bezahlen", lachte Sue ihn mit strahlenden blauen Augen an. "Ach, die ist nicht so teuer. Ein Freund von mir arbeitet für diese Firma." Schon wieder eine Lüge. "Geldgier, reine Geldgier", dachte Geddy heute und versuchte den Rest des Gesprächs von damals zu verdrängen. Es funktionierte nicht. "Also, wie viel", sie kniff ihm liebevoll in die Seite. "Um die 1000 denke ich", pokerte er und zog prompt die richtige Karte. "Für 1000 nehme ich so ein Ding", Sue hatte sich entschlossen. Schneller, als sie es selber vermutet hätte, doch sie wollte spontan sein und sich einmal etwas gönnen, selbst, wenn es nur das Gefühl wirklicher Sicherheit war. Mit ihren drei Schlössern vor der Haustür und dem Elektroschocker an der Garderobe fühlte sie sich nie wirklich sicher. Einen Tag später hatte Geddy die Anlage eingebaut. Dank der Unterstützung eines kleinen Tutorials, das der eingebaute Chip in der Anlage an die Hauswand projizierte war die Installation ein Kinderspiel gewesen. Von den 700 Jon Gewinn hatte Geddy sich zwei Abende in der virtuellen Welt der Computerspiele gegönnt. Am ersten Abend hatte er sich in einen Cyberanzug geworfen, um als Billy the Kid den Westen unsicher zu machen, während er den zweiten Abend als Mitglied des echten Shakespeare-Ensembles im 16. Jahrhundert verbracht hatte. Solche Abenteuer waren gut betuchten Bürgern vorbehalten, schließlich kosteten drei Stunden satte 350 Jon. Es waren aufregende Abenteuer an den beiden Tagen nachdem er Sue die Alarmanlage eingebaut hatte, von denen er nun wünschte, es hätte sie nie gegeben. Geddy klopfte nun seinem Haushaltsroboter auf den Rücken. "Gut gemacht, Blechkopf." Der Roboter erwiderte nichts, da er sich selbst auf Stand-by geschaltet hatte, nachdem die Arbeit im Haushalt erledigt war. Der Robbie war aber noch ganz warm. "Uii, viel arbeitet heute, was?", lachte Geddy und der Roboter entgegnete "Ja, Sie sind ein Schwein". Das jedenfalls hatte Geddy sich in seinen Gedanken vorgestellt. Irgendwann wird er mir die Meinung sagen, dachte er amüsiert und ging in den Wohnraum. "Bildschirm", rief er und der staatliche Sender erstrahlte über 5×5 Metern auf der Wohnzimmerwand. Es lief ein Werbespot für Arbeit in einem Kraftwerk. Geddy setzte sich und holte den Chip der Lottogesellschaft hervor. Nach wenigen Minuten begann die Übertragung. "Wir begrüßen Sie zur heutigen Ziehung", sagte die charmante blonde Frau am Bildschirm und drückte einen Knopf, worauf unzählige Würfel, die mit den 99 Zahlen der Lotterie beschriftet waren, in einem eckigen Glaskasten damit begannen, herumgewirbelt zu werden. Sie sausten durch die Luft. "Wie immer wurde der Ziehungscomputer vor einer halben Stunde ausführlich auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüft. Als Gaststar haben wir heute niemand anderen als den berühmtesten Geschäftsmann des Landes verpflichten können, um die Zahlen zu ermitteln", strahlte Blondie und zeigte auf die Showtreppe. Shen Lui Lo, Erfinder der Haushaltsroboter und Besitzer der "London Robot Association", kam beschwingt die Treppe herunter. "Hallo, liebe Lottospieler", sagte er fröhlich. "Ich hoffe, ich mache Sie reich. So reich, wie mich, haha", er lachte schallend. "Naja, vielleicht nicht ganz so reich." Die Ansagerin ergriff das Wort wieder. "Mr. Lo, drücken Sie den Laser für Zahl Nummer eins." "Sehr gerne." Er drückte auf einen übergroßen Button und ein Laserstrahl begann im Inneren der Kapsel zu glühen. Er fuhr drei, vier mal durch den Glaskasten und erfasste plötzlich einen der Würfel. Der Würfel verglühte und ein Tusch ertönte. Auf dem Bildschirm erschien eine große rot-leuchtende Zahl. "99", sagte die Ansagerin und Geddy hatte eine Zahl richtig. Eine Zahl, die er zuvor noch nie getippt hatte. "Na, sie wollen aber hoch hinaus", grinste die Ansagerin. "Nur das Beste, nur das Beste für die Armen", verhöhnte Shen Lui Lo alle bibbernden Lottospieler vor den Bildschirmen. Geddy hatte ein schlechtes Gefühl. "Es werden sicher wieder drei", redete er sich ein. Lui Lo drückte erneut die Lasertaste und diesmal schwirrte der Strahl deutlich länger im Glaskasten umher, bis er eine Zahl ermittelt hatte. "30", sagte die Frau auf dem Bildschirm. "Das war es sicher schon, diesmal gibt es nicht mal Geld", flüsterte Geddy dem Haushaltsroboter zu, doch diesen schien das nicht zu interessieren. Plötzlich verspürte Geddy ein seltsames Kribbeln. "Ich halte das nicht aus", sagte er und tat wieder etwas, was er bislang noch nie gemacht hatte. Geddy Hill schaltete den Bildschirm ab und verließ die Wohnung. Er ging in die Kneipe, die ganz in der Nähe seiner Wohnung vor einigen Wochen neu eröffnet hatte. Die Straßen waren leer, die meisten Menschen schauten die Lottoshow. Geddy betrat die Kneipe und trank ein Bier. Er zahlte sofort. Nach zehn Minuten verließ Geddy das Lokal und ging zurück in seine Wohnung. Er hatte den Lottochip in seinen Safe gesperrt und holte ihn nun hervor.Geddy drückte ON. "Herzlichen Glückwunsch, Mr. Hill", ertönte es und eine Fanfare spielte eine einfache Linie. Geddy kannte dieses Prozedere. "Wie viel diesmal", sagte er fast ein wenig zu teilnahmslos. Innerlich war er hochgradig gespannt. Doch der Chip war nicht darauf programmiert zu antworten und spulte lediglich die ermittelten Zahlen ab. "13, 18, 22, 25, 30, 40, 62, 87, 99 und die Zusatzzahl 72." Geddy stutzte und konnte es nicht glauben, doch die Stimme bestärkte ihn in seinem Glauben. Mr. Hill, Sie haben sechs Richtige. Bitte setzen Sie sich umgehend mit der staatlichen Lotterie in Verbindung, um ihren Gewinn zu erhalten. Herzlichen Glückwunsch." Wieder ertönte die Fanfare vom Anfang und Geddy konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Nun würde alles gut werden, das Schicksal hatte ihn eingeholt und kann endlich begradigt werden. Geddy schnappte sich den Chip und ging, nein, er rannte zu Mr. Wong. "Hallo Mistel Hill, wiedel Dlei?" Wong griff zur Computerkasse und öffnete den Schacht, in der er in wenigen Sekunden den Lottochip schieben würde, um Geddy seinen Gewinn auszuzahlen. "Nein, Mr. Wong, diesmal sind es viel mehr", sagte Geddy fröhlich. "Wow, sechs Richtige", strahlte Wong, "Glatulation." Geddy grinste über beide Ohren. "Danke." "Wollen Sie das Geld sofolt mitnehmen oder soll ich es ihnen auf ihl Konto übelweisen?" Geddy schüttelte den Kopf. "Weder noch. Ich muss in die Vergangenheit. Und zwar morgen, am 29. Februar 2028." "Hallo Geddy, das ist aber eine schöne Überraschung." Sue Morgenstern schaute erstaunt und überglücklich. Ihre Uhr zeigte 16.06 Uhr und sie war gerade an der Haltestelle der Schwebebahn angekommen, als sie ihren Freund erblickte. "Was machst du denn hier?" Geddy war nervös. Er durfte keinen Fehler machen. "Ich dachte, ich mache dir am Schalttag eine Freude, wenn du schon arbeiten musst." Er zappelte auf einem Bein hin und her. Sue bemerkte die Nervosität. "Alles klar mit dir?", fragte sie. "Du wirkst so angespannt." Geddy fühlte sich ertappt. "Nein, alles bestens. Ich freue mich auf einen romantischen Abend mit dir", er bekam sich langsam besser in den Griff, wurde ruhiger. "Ohh, tolle Idee", brachte sie hervor. "Dann lass uns schnell zu mir, damit ich mich etwas frisch machen kann." Geddy hatte dies erwartet und es wäre kein Problem gewesen, schließlich waren sie damals vor vier Jahren, also heute, zuerst bei ihr gewesen. Trotzdem wollte er das Risiko nicht eingehen. "Nein, mein Schatz", sagte er und nahm sie bei der Hand. "Wir fahren schnell zu mir, das geht schneller. Da machen wir uns dann frisch und ziehen los, ok?" Er machte eine Pause und schaute sie fragend an. Sie überlegte. Es kam ihm vor, wie eine Ewigkeit, dann erwiderte sie unbekümmert. "Ok, warum nicht." Sie betraten die Schwebebahn und stiegen nach fünf Minuten wieder aus. Seine Wohnung war groß und geräumig. Drei Zimmer mit Küche und Dusche. Geddy hatte gehofft, irgendwann einmal mit Sue diese Wohnung beziehen zu können. Wenn alles glatt ging an diesem Tag in der Vergangenheit, würde sie sicher schon morgen bei ihm einziehen wollen. Der Abend verlief ganz genauso, wie Geddy es sich seit vier Jahren vorgestellt hatte. Sie ging bei ihm duschen und er führte sie groß aus. Geld hatte er mitgebracht, damals hatte er kaum welches. Um 18 Uhr entführte Geddy seine Geliebte in einen dreidimensionalen Film. Diese Art des Vergnügens hatte dazu beigetragen, dass es kaum noch echte Bühnenstücke gab und auch Geddy desöfteren für Werbespots agieren musste. Trotzdem fand er es beeindruckend, wenn er Klassiker wie Casablanca oder Jurassic Park wie ein Theaterstück erleben konnte. Alles wirkte so unglaublich echt und nur wirklich Mutige wagten sich in eine 3D-Vorführung von Streifen wie "Alien" oder "Freitag, der 13.". Nachdem sie das "Moulin Rouge" in 3D erlebt hatten, wollte Sue nach hause, doch Geddy lud sie noch zu einem Kaffee in seine Wohnung ein. Sie knutschen wild herum und dann geschah das, wovor der Geddy aus der Zukunft Angst gehabt hatte. Sie wollte mit ihm schlafen. Er war sehr nervös, doch er versuchte die Erinnerungen auszublenden und es klappte. Mal zärtlich und sanft, mal hart und fordernd brachte Sue ihr Verlangen zum Ausdruck und als sie beide völlig erschöpft aufeinander lagen, erblickte Geddy den Chronometer an der Wand. 22.14 Uhr. "Ohh, wir müssen langsam los", schrie er fast. "Wieso? Und wieso wir?", Sue verstand nicht. "Na, du musst morgen früh raus und ich bringe dich schnell noch nach hause. Ich will nicht, dass dir was passiert." Sie runzelte die Stirn. "Ach, du bist süß. Was soll mir denn passieren?" Nun, du könntest von Einbrechern in deiner Wohnung zerstückelt werden, weil die verdammte Alarmanlage den Geist aufgegeben hat, durchfuhr es Geddy in Gedanken. Einbrecher, die du überrascht hast, weil du ZU früh nach hause kamst. Geddy wusste, dass Sue nun sicher war, weil die Polizei damals süffisant bemerkt hatte, dass die Einbrecher schon dabei waren, das Feld zu räumen, als Sue sie gestört hatte. Trotzdem wollte er mitgehen, er wollte dabei sein, wenn sie den Einbruch bemerkte, um ihr sagen zu können, dass sie morgen zu ihm ziehen sollte, um sich wirklich sicher fühlen zu können. Sie hatte schon oft über das Zusammenziehen geredet, so dass Geddy wusste, dass Sue sicher nicht nein sagen würde. Sie liebten sich über alles und Geddy hasste sich in diesem Moment wieder für die Aktion mit der Alarmanlage. Doch alles würde gut werden. "Geddy!!!", sie schrie ihn fast an und holte ihn aus seinen Tagträumen. "Was soll mir passieren und warum kann ich denn nicht hier bleiben?" Geddy war auf diese Frage vorbereitet und er begann schamhaft zu lächeln. Spiel, wie du noch nie gespielt hast, dachte er sich und begann zu spielen, als würde die Oscarverleihung aus der Ferne winken. "Es tut mir leid, aber der romantische Abend muss leider enden", stotterte er. Sue schaute ihn an. "Warum?" "Weil, gleich Rick antrabt und wir die ganze Nacht für dieses blöde Stück proben werden", zog Geddy das Kaninchen aus dem Hut. "Der Regisseur hat mich heute schon wieder angemacht. Ich muss was tun." Sue lächelte. "Du bist ein toller Schauspieler, warum lässt du dich von diesem Provinz-Heini so anfahren?", Sue verstand die Probleme nicht, die Geddy belasteten, doch sie wollte sie nicht noch verschlimmern. "Ich liebe dich, Geddy Hill", der folgende Kuss auf die Wange schmatzte in seinem Ohr. "Nicht nur, weil du ein toller Liebhaber bist", frohlockte sie, "sondern auch, weil du so ehrgeizig bist." Hatte sie die Begründung akzeptiert? "Es ist eh besser so, ich kann schließlich nicht morgen in den Klamotten von heute auf der Arbeit erscheinen." Sue war zurück in der Rationalität und das bemerkte Geddy mit großer Erleichterung. 22.24 Uhr. "Lass mal gut sein, Schatz. Ich fahre alleine. Wann kommt Rick denn?" "Er kommt gegen halb zwölf. Zeit genug also", er erkannte, dass er schon wieder auf einem Drahtseil ging. "Ich bestehe darauf, dich nach hause zu bringen", sagte er im Tonfall eines echten Gentlemen der uralten Schule. "Bitte Ginger", sagte er. "In Ordnung Mr. Astaire", scherzte sie zurück. "Wir gehen singend durch den Regen." 23.28 Uhr. Sue Morgenstern war völlig verängstigt. "Eingebrochen. Trotz Alarmanlage. Alles durchwühlt", sie stammelte in das Kommunikationsmodul in ihrem Wohnzimmer. "Beruhigen Sie sich, Miss Morgenstern. Wir schicken einen Wagen. Packen Sie einige Sachen, sie werden die Nacht in Sicherheitsverwahrung verbringen", die Stimme am Kommunikator klang freundlich, aber bestimmt. Es war ein Mann, der in dieser Nacht schon viele Einbrüche aufgenommen hatte. "Es war eine Serie, vermutlich die gleichen Täter in einem ganzen Haufen von Wohnungen", hatte er erklärt. "Kann ich nicht bei meinem Freund übernachten, Officer?" Geddy hörte die Frage, doch er hatte sie erwartet. Seine Recherchen hatten ergeben, dass es keine Ausnahmen zur Verwahrungsregel gab. "Hören sie, Miss Morgenstern. Ich habe meine Anweisungen und wenn ich diese nicht befolge darf ich morgen wieder Streife fahren", antworte der Mann bestimmt. "Schon gut, ich verstehe", schluchzte sie. Geddy nahm sie in den Arm. Die Wohnung war zertrümmert, bot ein Bild des Schreckens. Spot, Sues Perserkatze, war mit einer Art elektronischen Heckenschere verstümmelt worden und blutete aus den abgeschnittenen Stumpen. Sie war tot. Auch die beiden Wellensittiche James und Dean waren in Stücke geschnitten worden. Sue hatte einen Schock. "Was, wenn ich etwas früher nach hause gekommen wäre?", weinte sie leise und Geddy kannte die Antwort nur zu gut, doch er schwieg. 23.45 Uhr. Sue hatte sich beruhigt, was auch die Anwesenheit der Polizisten samt Psychologen ausgemacht hatte. Zudem hatte ihr Geddy gerade eine Riesenfreude gemacht und eine enorme Last von ihren Schultern genommen. "Willst du zu mir ziehen?", hatte er gefragt und sie hatte bereitwillig "Ja, bitte" geantwortet. "Ich lasse morgen alle deine Sachen abholen, ein Freund schuldet mir noch einen Gefallen und er hat ein Umzugsunternehmen", log er. Er hatte es nun eilig, doch der Zeitplan war perfekt. 23.49 Uhr küsste er sie zum Abschied und um 23.53 sah er, wie Sue im Polizeiwagen davonbrauste. Er hatte noch einige Minuten. Bevor die Zeitreise enden würde und kaufte an einem Bankterminal noch schnell einige Aktien. Die Zukunft, nein die Gegenwart, sollte schließlich sorgenfrei sein. Geddy blickte auf seine Uhr, es war 6 Uhr. Er hatte geschlafen. Um ihn herum schnarchte selig eine weitere Person. Es war eine Frau. Geddy beschlich ein Glücksgefühl, er verfiel in totale Euphorie. Es hat geklappt, dachte er. Sue ist bei mir, ich bin reich und das Leben ist wieder Lebenswert. "Ich habe dem Schicksal ein Schnäppchen geschlagen", rief er laut aus. "Was?", eine tiefe Männerstimme fragte in forderndem Ton nach. Geddy war verwirrt. Er setzte sich auf und erkannte, dass er in einem großen abgedunkelten Raum auf einer Art Pritsche lag. Neben ihm standen drei weitere Pritschen. Auf einer lag eine dicke Frau und schnarchte. Seine Geruchssensoren machten ihn auf Alkohol aufmerksam. Die Frau schlief ihren Rausch aus. "Geht es ihnen gut, Mr. Hill?", die Männerstimme ertönte erneut. "Ähh, ja. Wo bin ich?" Ein Polizist näherte sich dem dunklen Gang. "Sie wissen nicht, wo sie sind?", der Polizist winkte seinen Kollegen heran. "Nein, wo bin ich und wo ist meine Freundin Sue?" Geddy hatte eine leise Ahnung, dass irgendetwas schief gegangen war. Vielleicht war er einen Tag zu spät wieder in der Gegenwart angekommen. So etwas könne geschehen, warnte der Beipackzettel, den alle Zeitreisenden unterschreiben mussten und der den Staat von jeglicher Verantwortung befreite. Einige Zeitreisende verloren ihr Gedächtnis für ein oder zwei Tage. Genau, das musste es sein. Der Polizist näherte sich ihm. In der Hand hielt er ein schmales Röhrchen. Geddy konnte nicht erkennen, was es genau war. Urplötzlich schnellte die Hand des Polizisten hervor und ein schmerzhafter Stich durchfuhr Geddy, bevor er einschlief. "Arme Sau", flüsterte der Polizist mit der Spritze seinem Kollegen zu. "Völlig verwirrt", entgegnete dieser. "Das wärst du sicher auch, wenn du an dem einen Tag, an dem du auf Geschäftsreise bist, deine Frau und deine Kinder verloren hättest und dich plötzlich in der Sicherheitsverwahrung wiederfindest. Diese Verbrecher", der Polizist schüttelte den Kopf. "Die Einbrecher werden immer dreister. Und niemand ist davor gefeit, es kann jeden erwischen", der Spritzen-Polizist deutete auf Geddy Hill, der sanft auf der Pritsche schlummerte. Sein Kollege drehte ihm den Rücken zu. "Schicksal! Das kannst du nicht ändern." ENDE TS © Donnerstag, 29. August 2002

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