Classics: Kid A / Radiohead

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Alle Nostalgiker, die The Bends von 1995 noch immer für das Meisterwerk von Radiohead halten, täuschen sich möglicherweise ebenso sehr wie diejenigen, die zwei Jahre später OK Computer zum Opus magnum in der Karriere der einstigen Gitarrensound-Frickler aus dem britischen Oxfordshire ausgerufen haben. Wirklich miteinander vergleichbar sind diese beiden Alben ohnehin nicht. Vielmehr zeichnet sich auf diesen durch den mutigen Schritt vom ziselierten Brit-Pop der frühen Jahre hin zum ambitionierten Art-Rock bereits die radikale künstlerische Emanzipation vom musikalischen Mainstream ab, die dann im Jahr 2000 auf Kid A ihren eigentlichen Höhepunkt finden wird – einem bedrohlich dräuenden Jahrtausendwende-Album, das noch weniger mit den beiden Vorgängern vergleichbar ist als diese untereinander. Und das nicht wenige Fans und Kritiker zunächst einmal ebenso verstört wie rund 15 Jahre zuvor die urplötzliche Wandlung von Talk Talk von einer Chart-Band zu den Wegbereitern des Post-Rock.

So verweigern Radiohead im gesamten ersten Drittel von Kid A ihren Zuhörern etwa jeglichen Gitarrensound. Auch von Pop fehlt nun jede Spur. Stattdessen klingen der grandios melancholisch-warmherzige Opener “Everything In Its Right Place” und der darauffolgende Titelsong wie eine perfekte Amalgamierung elektronischer Sounds, Samples und repetitiver Rhythmen stilprägender Nischen-Bands wie Can, Kraftwerk oder Boards Of Canada mit dem “typischen” Radiohead-Sound. Nur wenigen Bands zuvor ist es gelungen, nach einem solchen Schnitt gleichermaßen aufregend neu und dennoch vertraut zu klingen. Ohne es den Fans zu leicht zu machen.

Denn auch der dritte Song des Albums, das brachiale und überaus beunruhigende “The National Anthem”, schert sich einen Dreck um Hörererwartungen, indem nahezu alles Sechssaitige durch ein treibendes, fast schon brutales Bass-Riff und eine aggressive Bläser-Sektion ersetzt wird. Jazzcore, wenn man so will. Erst im wunderbar verschleppten und seltsam verpeilten “How To Disappear Completely” kommen (neben allerlei anderen Soundspielereien, darunter eine zwischenzeitlich völlig ins Disharmonische abdriftende Streicherabteilung) Gitarren zum Einsatz.Vornehmlich akustische. PictureUnd auf dem zynisch betitelten Untergangsrocker “Optimistic” dann sogar elektrische – die dann aber später beim heimlichen Hit des Albums, dem unheilvoll und rein elektronisch drauflos pumpenden “Idiotheque”, wieder ebenso fehlen wie Bass und Schlagzeug. “Women and children first” heißt es dort nicht von ungefähr. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms konnten sich Radiohead endlich solche Extravaganzen leisten – und das ist auch gut so, da nur auf diese Weise wahrhaftige Kunst die Massen erreichen kann. Früher oder später zumindest. 

Kurzum, Kid A zieht seine musikhistorische Bedeutung aus der ganz und gar eigensinnigen und glücklicherweise rundum gelungenen Harmonisierung klassischer, experimenteller und dezent rockistischer Elemente auf durchgehend hohem Niveau – ohne dabei schnöder Prog-Rock oder gar Schlimmeres zu sein. Dafür ist dieses bis heute teils noch missverstandene Meisterwerk zu zeitlos. Zu relevant. Vor allem Thom Yorkes’ virtuoser, jenseitiger und auf alle musikalischen Stimmungen exakt abgepasster Gesang voller verschwurbelter Lyrics, mit denen man sich wahrlich nicht jeden Tag beschäftigen möchte, hält das in seiner düsteren Grundstimmung konsistente Album dabei nach wie vor bestens zusammen. Kopfmusik, die ganz und gar party- und badeseeuntauglich ist. Doch dazu wurde sie ja auch nicht geschaffen.

 

 

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